Bundespr�sident Rau, Herr Pr�sident des Deutschen Bundestages, Herr Pr�sident des
Bundesrates, lieber Bundeskanzler Schr�der, Mitglieder des Kabinetts, meine Damen und
Herren Abgeordneten, Exzellenzen, Freunde - Lassen Sie mich mit einer Geschichte
beginnen, doch zuvor hoffe ich auf Ihr Verst�ndnis, dass ich als Zeuge zu Ihnen spreche.
Und ein Zeuge muss beschw�ren, dass er die Wahrheit spricht.Der Jude, der ich bin, glaubt
dazu ein Gebet sprechen zu sollen. Vor 55 Jahren kamen die Russen f�r mich und die mir
Nahestehenden ein bisschen zu sp�t. Darum schauen sie nicht mich an und den Mann, der ich
heute bin. Sondern versuchen Sie bitte, in mir die Person zu sehen, die ich vor 55 Jahren
war.
Heute bin ich hier mit meiner Frau Marion und zwei sehr nahen Freundinnen Inga und Ira,
und darum will ich ein Gebet sprechen. Es stammt aus dem Buch Baruch und hei�t:
"Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein l�sst."
Und nun zu der Geschichte.
Es war einmal, da lebte in einem fernen Lande ein guter K�nig. Eines Tages sagten ihm
seine Sterndeuter, die n�chste Ernte werde verflucht sein, und wer von ihr esse, verfalle
dem Wahnsinn. Also lie� er einen riesigen Kornspeicher bauen und lagerte dort alles ein,
was von der letztj�hrigen Ernte �brig geblieben war. Sodann vertraute er den Schl�ssel
zum Kornspeicher seinem engsten Freund an und sagte zu ihm: "Wenn meine Untertanen
und ihr K�nig vom Wahnsinn befallen sein werden, sollst du ganz allein das Recht haben,
den Kornspeicher zu betreten und unverseuchte Nahrung zu essen. Auf diese Weise entgehst
du dem Fluch. Daf�r aber f�llt dir eine lebenswichtige und unm�gliche Aufgabe zu. Du
musst kreuz und quer durch die Welt wandern von einem Lande zum andern, von Stadt zu
Stadt, von Marktflecken zu Marktflecken und von Person zu Person und aus Leibeskr�ften
rufen: Gute Leute, vergesst nicht, dass ihr wahnsinnig seid! Frauen und M�nner, vergesst
nicht, vergesst doch bitte nicht, dass ihr wahnsinnig seid!"
Diese Erz�hlung des gro�en Rabbi Nachman von Brazlaw, einem Vorl�ufer von Franz
Kafka, gilt gewiss f�r das Jahrhundert, das eben zu Ende ging, ein Jahrhundert, in dem in
der Geschichte der Wahnsinn ausbrach und sie oft zum Alptraum werden lie�. Darum gehen
auch wir Zeugen durch die Welt, um einfach zu verk�nden: "Vergesst nicht, dass Ihr
wahnsinnig wart, vergesst nicht, dass die Geschichte den Wahnsinn beherbergte." Der
Mann, den Sie liebensw�rdigerweise zur Teilnahme an dieser bewegenden Feierstunde in
Erinnerung an die Opfer dessen einluden, was wir so unzureichend mit Shoa oder Holocaust
bezeichnen und wof�r es keine Worte gibt, ist der Sohn eines alten Volkes, dessen Auftrag
�ber die Jahrhunderte darin bestand, den einzigen Gott und die Heiligkeit des
menschlichen Lebens zu verk�nden. Vor sechzig Jahren wurden er und seine Gemeinschaft in
dieser Metropole und Weltstadt der Isolation, dem Elend, der Verzweiflung und dem Tod
�berantwortet. Dennoch spricht er heute zu Ihnen als Zeuge, und ich hoffe, Sie glauben
mir, dass ich zu Ihnen ohne Hass noch Bitterkeit spreche. Mein ganzes Erwachsenenleben
lang habe ich versucht, Worte zu finden, die den Hass bek�mpfen, aufsp�ren, entwaffnen -
nicht ihn verbreiten.
Werden meine Worte Sie verletzen? Das ist nicht meine Absicht. Doch bitte ich Sie zu
verstehen, dass, als ich dieses Hohe Haus betrat, ich meine Erinnerungen nicht hinter mir
lie�. Ihretwegen sind sie sogar lebhafter denn je. In diesem kurzen Augenblick will ich
nichts anderes tun, als mit wenigen Worten an ein beispielloses Geschehen erinnern, das
auf Generationen hin auf dem Schicksal Ihres und meines Volkes lasten wird.
Ich kann dieses Geschehen nicht fassen. Ich versuche es immer noch. Seit meiner
Befreiung am 11. April 1945 habe ich alles gelesen, was ich dazu in die Hand bekommen
konnte. Historische Abhandlungen, psychologische Analysen, Zeugenaussagen und
Verm�chtnisse, Gedichte und Gebete, Tageb�cher von M�rdern und Betrachtungen von
Opfern, sogar an Gott adressierte Kinderbriefe. Doch bringe ich es auch fertig, mir die
Fakten, Zahlen und technischen Aspekte der "Aktionen" anzueignen, so entzieht
sich mir immer noch die unerbittliche Bedeutung, die allem innewohnt und es �bersteigt.
Die N�rnberger Gesetze, die judenfeindlichen Verordnungen, die Kristallnacht, die
�ffentliche Dem�tigung stolzer j�discher B�rger, darunter auch tapferer Frontk�mpfer
des Ersten Weltkrieges, die ersten Konzentrationslager, die Euthanasie deutscher B�rger,
die Wannsee-Konferenz, auf der die h�chsten Beamten des Landes einfach den Wahnsinn
hatten, die G�ltigkeit, Legalit�t und Methoden der Vernichtung eines ganzen Volkes zu
diskutieren. Und dann nat�rlich Dachau, Auschwitz, Majdanek, Sobibor - diese Hauptst�dte
dieses Jahrhunderts. O diese Namen ... Wahrzeichen, Flaggen, schwarze Flaggen, der Welt
zur Erinnerung an eine Welt, die damals war. Was hat sie erm�glicht? Wie soll man den
Kult von Hass und Tod begreifen, der in Ihrem Lande herrschte? Wie konnten intelligente,
oft hervorragend gebildete junge M�nner aus gutem Hause und mit Diplomen der namhaftesten
deutschen Universit�ten in der Tasche, die damals zu den angesehensten der Welt z�hlten,
sich so sehr vom B�sen verf�hren lassen, dass sie ihren Genius, diesen Genius des
B�sen, daf�r einsetzten, j�dische M�nner, Frauen und Kinder zu qu�len und zu t�ten,
die sie noch nie gesehen hatten? Sie taten es ja nicht etwa, weil diese Juden reich oder
arm, gl�ubig oder ungl�ubig, politische Gegner, Patrioten oder Kosmopoliten waren,
sondern einzig darum, weil sie als Juden geboren waren. Ihre Geburtsurkunde war de facto
ihr Todesurteil. Haben sich ihre Henker wirklich stark und heldenhaft gef�hlt, indem sie
wehrlose Kinder mordeten? Konnten sie denn wirklich Angst haben vor alten und kranken
Personen und kleinen Kindern, so dass sie sie zur erw�hlten Zielscheibe stempeln mussten?
Was hatten sie denn an sich, das ihnen solche Angst einjagte? Ihre Schw�che, ihre
Un-schuld vielleicht? Waren die M�rder �berhaupt noch Menschen? Diese Frage ist meine
Zwangsvorstellung. Wo endet Menschlichkeit? Gibt es eine Grenze, jenseits der
Menschlichkeit ihren Namen nicht mehr verdient?
W�hrend meiner Vorbereitung auf meine heutige Begegnung mit Ihnen - die ich (und Sie,
Herr Bundestagspr�sident, haben es gesagt) auf mehr als nur einer Ebene symbolisch
empfinde - habe ich gewisse Berichte von �berlebenden und Zeugen wieder gelesen, die zum
Teil noch leben, zum Teil schon tot sind. Und wieder traf mich mit voller Wucht die ewige
Gleichartigkeit der grausamen Szenen. Es ist, als habe ein einziger Deutscher, immer
derselbe, je und je immer nur ein und denselben Juden gequ�lt und get�tet, sechs
Millionen mal. Und doch ist jede Episode so unverwechselbar einmalig, wie jeder nach
Gottes Bildnis geschaffene Mensch einmalig ist.
Das ist der Grund, warum ich - ich bin kein Historiker - nicht von der Geschichte
spreche, sondern einfach Geschichten erz�hle. Hier ist eine von ihnen: Sie geschieht im
September 1941 in Babi-Yar in Kiew und wird von einem Augenzeugen, einem gewissen B. A.
Liebmann berichtet.
Eine j�dische Familie h�lt sich seit Tagen in einer H�hle versteckt. Die Mutter
beschlie�t, mit ihren beiden Kindern im nahen Dorf Hilfe zu suchen. Sie fallen einer
Gruppe betrunkener Deutscher in die H�nde, die nun vor den Augen der Mutter erst das eine
Kind k�pfen, dann das andere. W�hrend die fassungslose Mutter die K�rper ihrer beiden
toten Kinder umklammert, bringen die Deutschen, denen das Schauspiel offenkundig
Vergn�gen bereitet, auch die Mutter um. Als der Vater auf der Bildfl�che erscheint, wird
er ebenfalls ermordet. Ich fasse das nicht.
Man k�nnte mehr solche Geschichten erz�hlen, sechs Millionen mehr. Von allen
Verbrechen gegen das j�dische Volk, das meinige, ist das Schlimmste der Mord an seinen
Kindern. Immer waren sie die ersten, die ergriffen und in den Tod geschickt wurden.
Eineinhalb Millionen j�discher Kinder sind umgekommen. Meine Damen und Herren, wollte ich
heute allein ihre Namen aufsagen, die Moischele, die Jankele, die Sodele, wollte ich
allein ihre Namen rezitieren, ich st�nde Monate und Jahre hier ...
Aber haben denn nicht auch die V�lker der Welt mit ihnen so unendlich viel verloren,
nicht nur mein eigenes? Wie viele Wohlt�ter der Menschheit kamen da um, als sie gerade
einen Monat, ein Jahr alt waren? Wissenschaftler h�tten unter ihnen sein k�nnen,
Forscher, die ein Heilmittel f�r AIDS oder eine Heilung f�r Krebs erfunden h�tten.
Gro�e Gedichte h�tten sie schreiben k�nnen, die jedem Inspiration geboten, ihn zum
Verzicht auf Gewalt und Krieg bewegt h�tten, oder auch nur ein paar Worte oder ein Lied,
in denen Menschen endlich zusammengefunden h�tten.
Es gibt ein Bild, wie lachende Soldaten einen j�dischen Jungen in einem Ghetto
umringen, wahrscheinlich in Warschau. Ich sehe es mir oft an. Was an dem traurigen und
ver�ngstigten j�dischen Kind mit den hoch erhobenen Armen am�sierte die deutschen
Soldaten denn so? Was war denn so komisch daran, ihn zu foltern? War diesen Soldaten,
vermutlich guten Ehem�nnern und V�tern, denn nicht bewusst, was sie ihm antaten? Dachten
sie nicht an ihre eigenen Kinder und Enkel, die sp�ter die B�rde ihrer Verbrechen zu
tragen hatten und die doch, wie ich noch sagen werde, unschuldig sind? Iwan Karamasow war
der Meinung, "grausame Menschen sind manchmal sehr kinderlieb". Mag sein, aber
f�r j�dische Kinder gilt das nicht.
Nat�rlich wurde uns Juden im besetzten Europa bald klar, dass die freie Welt wusste,
was mit uns geschah, und sie deshalb, wenngleich in ganz anderem Ma�e, mitverantwortlich
war. Die Alliierten schien es nicht besonders zu k�mmern; sie machten ihre Grenzen f�r
uns nicht auf, als noch Zeit war. Und so gelangte Berlin zu der �berzeugung, unser
Schicksal ber�hre niemanden wirklich. Nicht einmal Gott, den Gott Israels, schien es zu
r�hren. Mehr noch als das Schweigen der andern war sein Schweigen ein Geheimnis, das
vielen von uns r�tselhaft bleibt und uns bedr�ckt bis auf den heutigen Tag. Doch dies
ist ein anderes Thema, das wir am heftigsten diskutieren, wenn wir unter uns sind. Wovon
wir heute reden sollen, das sind nur die Juden und die Deutschen, damals und jetzt. Mein
Volk hatte zahllose Feinde, seitdem es auf der Weltb�hne auftrat. Wir erinnern uns ihrer
aller. Aber keiner hat uns so tief verwundet wie Hitlerdeutschland. Im Verlauf der
Jahrtausende haben wir Diskriminierung, Verfolgung, vielf�ltige Isolierung erlitten, die
Kreuzz�ge, die Inquisition, die Pogrome, die verschiedenen Folgen eingefleischten
Judenhasses �berlebt. Aber der Holocaust ging viel weiter. Ich sage es unter Schmerzen:
Kein Volk, keine Ideologie, kein System hat je in so kurzer Zeit ein solches Ausma� an
Brutalit�t, Leid und Dem�tigung �ber ein Volk gebracht wie das Ihrige �ber das meine.
Das Urteil, welches das Dritte Reich �ber uns sprach, war t�dlich und unwiderruflich.
Die bis ins Kleinste geplante Endl�sung war geradezu eschatologisch; ihr Ziel war die
Vertilgung auch noch des allerletzten Juden vom Antlitz der Erde. Dieses Ziel stand �ber
allen anderen; so genoss beispielsweise die Deportierung der ungarischen Juden, zu denen
ich geh�re, Vorrang vor dem Transport der dringend ben�tigten Soldaten zur Front.
Ich wei�, dass nicht alle Deutschen mitmachten, und auch an sie m�ssen wir denken. An
jene, die den Mut hatten, sich gegen die amtliche Rassenideologie zu stellen. Jene, die
dem totalit�ren Nazi-Regime widerstanden. Jene, die es zu st�rzen versuchten und mit
ihrem Leben daf�r bezahlten. Zu Recht ehren Sie ihre Tapferkeit. Nur, leider, waren es
wenige. Und die j�dischen Freunden und Nachbarn beistanden, waren noch weniger.
Viele in Deutschland und anderswo lasten heute alle Schuld den Nazis auf. "Die
Nazis haben dies oder jenes getan", hei�t die akzeptierte Formel. Die Nazis, nicht
die Deutschen. Soll das hei�en, dass es zwei parallele Geschichten Deutschlands gibt,
eine Nazi-Geschichte und die deutsche Geschichte? Nat�rlich waren nicht alle Deutschen
Nazis. Aber wiederum kann ich Ihnen als Zeuge sagen, dass damals das Wort
"deutsch" �ngste einjagte, dass wir uns f�rchteten, wenn wir h�rten, die
Deutschen k�men.
An diesem Ort versuchen die neuen F�hrer des deutschen Volkes tapfer und ehrenvoll ein
neues Schicksal aufzubauen. Eine menschlichere Philosophie f�r die Lebenden, und wir sind
gekommen zu sagen, wie sehr wir dies begr��en. In jener Zeit kam der Beschluss, uns aus
der Geschichte zu beseitigen, zwar von h�chster Stelle, aber ausgef�hrt wurde er unten.
Und wenn man die Opfer fragt, war alles deutsch - das Zyklongas war deutsch, die die
Krematorien bauten, waren deutsch, die die Gaskammern bauten, waren deutsch. Die Befehle
wurden auf deutsch gegeben. Paul Celan sagt: "Der Tod ist ein Meister aus
Deutschland." Celan hat Selbstmord ver�bt, weil er gesp�rt haben d�rfte, dass sein
Ausspruch diese wesentliche Wahrheit seiner oder unserer Erfahrung immer noch nicht
mitzuteilen vermochte. Bis zum Ende der Zeiten wird Auschwitz Teil Ihrer Geschichte sein,
so wie es Teil der meinigen sein wird.
Ich wei�, es f�llt Ihnen schwer und schmerzt Sie, in solchen Kategorien zu denken.
Sie sind eine neue Generation, keiner von Ihnen musste einen Eid auf Hitler leisten.
Nat�rlich hat keiner von Ihnen ein Verbrechen oder eine S�nde begangen. Aber ich bin
sicher, dass sie sich in bangen Momenten fragen, wo waren damals unsere Eltern, wo standen
sie?
Ich sehe mich veranlasst, hier zu wiederholen, was ich �berall sage: Ich glaube nicht
an Kollektivschuld; nur die Schuldigen sind schuldig; nur sie und ihre Komplizen. Nicht
jene, die damals noch nicht waren, und schon gar nicht die Kinder. Die Kinder von M�rdern
sind nicht M�rder, sondern Kinder. Und Ihre Kinder, von denen viele so gut sind, ich
kenne sie doch. Ein paar waren meine Sch�ler. Sie sind wunderbar, hoch motiviert und
zugleich sich qu�lend, verst�ndlicherweise. Irgendwie f�hlen sie sich schuldig, obwohl
sie keinen Anlass dazu haben. Und was sie tun, um Ihr Land und Volk zu erl�sen, ist
gewaltig. Alles Geistige ber�hrt sie. Sie gehen nach Israel und helfen beim Aufbau mit,
verhelfen den Menschenrechten zum Durchbruch, weil sie, Ihre Kinder, sp�ren, dass diese
dunkle Zeit nicht in Vergessenheit geraten darf.
Was also ist es, was wir den Holocaust nennen? War er eine Konsequenz der Geschichte,
eine Verirrung der Geschichte? Dies ist nicht die Zeit und der Ort, dar�ber zu sprechen.
Daf�r gibt es andere Zeiten, in der Schule zum Beispiel, denn Erziehung ist wichtig.
Gestern nahmen der Bundeskanzler und ich an einer Sitzung in Stockholm �ber die
Holocaust-Erziehung teil. Und Ihre Worte sind dort auf gro�es Echo gesto�en. Ich wei�
nicht, ob ich die Antwort parat habe, aber Erziehung �ber den Holocaust ist bestimmt ein
wichtiger Teil der Antwort. Also tut es, nehmt euch die Zeit, bewilligt die Gelder, tut,
was immer ihr k�nnt, damit die Kinder, Ihre Kinder, die wissen wollen, auch wissen
k�nnen.
Hier stehe ich und erinnere mich an vor 55 Jahren. Ich erinnere mich, und wenn ich
sagen soll, woran ich mich erinnere, dann zittere ich. Reden wir also lieber von dem, was
zu tun ist. Ich als Jude spreche nat�rlich von den j�dischen Opfern, von meinem Volk.
Ihre Trag�die war einmalig, aber ich vergesse dar�ber die anderen Opfer nicht. Wenn ich
als Jude von j�dischen Opfern spreche, dann ehre ich auch alle anderen. Ich pflege zu
sagen: Waren auch nicht alle Opfer Juden, so waren doch alle Juden Opfer.
Ihrer zu gedenken, Herr Pr�sident, Herr Bundeskanzler, Herr Bundestagspr�sident, hat
dieses Parlament beschlossen, den 27. Januar zum Nationalen Holocaust-Gedenktag zu
erheben, und diese Entscheidung macht Ihnen Ehre. Meine Anwesenheit heute soll Ihren
Willen bezeugen, die Pforten der Erinnerung zu �ffnen - und gemeinsam unsere �berzeugung
und Entschlossenheit zu bekunden, dass es h�chste Zeit ist, dass Kain aufh�rt, seinen
Bruder Abel zu ermorden.
Gewiss wird es Stimmen geben, die sagen, man mache es sich zu leicht, wenn man einen
Tag im Jahr dazu ausersehe, einen Gedenkspruch zu sprechen und sich dann wieder dem Alltag
zuzuwenden. Das sei doch blo�er Schein. Doch ich bin nicht dieser Meinung. Ich nehme
Ihren Schritt ernst. Ich glaube nicht, dass Sie sich der Befreiung von Auschwitz erinnern
wollen, um Auschwitz zu vergessen. Im Gegenteil, Sie wollen diese Befreiung ins
Ged�chtnis rufen, um alles davor zu verurteilen und mehr dar�ber zu erfahren. Ebenso
wenig glaube ich, dass Sie den unanst�ndigen Stimmen in diesem Land Geh�r schenken
wollen, die Ihnen einfl�stern, doch endlich "das Blatt zu wenden", weil Sie
angeblich "diese Geschichten satt haben". Wer einen Schlussstrich ziehen will,
hat es schon l�ngst getan. Er hat nicht nur das Blatt gewendet, sondern es aus seinem
Bewusstsein gerissen. Wer sich dazu herbeil�sst, die Erinnerung an die Opfer zu
verdunkeln, der t�tet sie ein zweites Mal. Das aber ist dann seine Last.
Nach dem Krieg erwarteten einige von uns von einem besiegten und gedem�tigten
Deutschland eine kraftvollere Botschaft der Reue und Zerknirschung, die dem moralischen
Anspruch gem�� w�re; es war aber eher nur eine politische. Doch dann, seit Konrad
Adenauers Zeiten, sind Sie eine Demokratie geworden, die w�rdig war, ihren Platz in der
V�lkerfamilie einzunehmen. Sie haben Israel politisch, wirtschaftlich und strategisch
konsequent unterst�tzt. Ihre finanziellen Wiedergutmachungsleistungen an die Opfer, vor
allem die j�dischen, und das, was sie f�r die Zwangsarbeiter nun als Gesetzentwurf
vorsehen, sind positiv. Aber vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen f�r eine Geste,
die weltweites Echo f�nde.
Bundespr�sident Rau, vor ein paar Wochen haben Sie sich mit einer Gruppe von
Auschwitz-�berlebenden getroffen. Einer davon erz�hlte mir, Sie h�tten etwas sehr
Bewegendes gesagt. Sie baten um Verzeihung f�r das, was das deutsche Volk ihnen angetan
hat. Warum dies nicht auch hier tun, im Geist dieses feierlichen Tages? Warum soll nicht
der Bundestag dies Deutschland und seinen Verb�ndeten und Freunden und insbesondere den
jungen Menschen sagen? Haben Sie das j�dische Volk gebeten, Deutschland zu verzeihen, was
das Dritte Reich in Deutschlands Namen so vielen von uns angetan hat? Tun Sie es, und es
wird in der Welt widerhallen. Tun sie es, und dieser Gedenktag erh�lt eine noch gr��ere
Dimension. Tun sie es, und die Welt wird wissen, dass ihr Vertrauen auf Deutschland nun
wahrhaft gerechtfertigt ist. Denn jenseits aller nationalen, ethnischen oder religi�sen
Erw�gungen war in jenen dunklen Tagen die Menschheit als solche gef�hrdet. Ist es in
gewisser Weise immer noch. Was immer das neue Jahrhundert bringen mag, und wir brauchen
verzweifelt Hoffnung f�r das neue Jahrhundert und seine neue Generation - Auschwitz wird
den Menschen weiterhin zwingen, die dunkelsten Abgr�nde seines Seins zu durchforschen und
sich ihrer schwankenden Wahrheit zu stellen.
Oben sagte ich, dass ich Geschichten bevorzuge. Lassen Sie mich schlie�en mit der
Geschichte eines kleinen Judenm�dchens, das gemeinsam mit ihrer Mutter in der Nacht ihrer
Ankunft im Mai 1944 in Birkenau starb. Acht Jahre war sie alt und hatte nichts getan, was
Ihrem Volk h�tte schaden k�nnen - warum musste sie diesen gr�sslichen Tod erleiden? Und
w�rde ihr Bruder so alt wie die Welt, er w�rde es niemals begreifen. Darum zitiert er
einfach einen anderen gro�en chassidischen Meister, Asasow von Galizien. Er war f�r sein
Mitgef�hl bekannt und sagte: "Meine Freunde, wollt ihr den Funken finden? Sucht ihn
in der Asche."