"Wenn aber nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden und du,
der du ein wilder �lzweig warst, in den �lbaum eingepfropft worden bist
und teilbekommen hast an der Wurzel und dem Saft des �lbaums, so r�hme
dich nicht gegen�ber den Zweigen. R�hmst du dich aber, so sollst du
wissen, da� nicht du die Wurzel tr�gst, sondern die Wurzel tr�gt dich.
Nun sprichst du: Die Zweige sind ausgebrochen worden, damit ich
eingepfropft w�rde. Ganz recht! Sie wurden ausgebrochen um ihres
Unglaubens willen; du aber stehst fest durch den Glauben. Sei nicht stolz,
sondern f�rchte dich! Hat Gott die nat�rlichen Zweige nicht verschont,
wird er dich doch wohl auch nicht verschonen." (R�merbrief, Kapitel
11, 17-21)
In den letzten Jahren ist sowohl in der kirchlichen als auch in der
gesellschaftlichen �ffentlichkeit in Deutschland die Auseinandersetzung
mit der Trag�die des Holocaust in einer neuen Intensit�t aufgebrochen.
Die Serie rechtsradikaler und antisemitischer Anschl�ge des vergangenen
Sommers und Herbstes hat auf erschreckende Weise vor Augen gef�hrt, da�
die Kr�fte des Antisemitismus in unserem Volk bei weitem noch nicht
�berwunden, geschweige denn ausgel�scht sind.
Dies ist eine Herausforderung an die ganze Gesellschaft, in ganz
besonderer Weise aber an uns Christen. Die speziell an uns gerichtete
Herausforderung hat eine Reihe von gewichtigen Hintergr�nden, von denen
ich drei herausgreifen m�chte:
- Wir sind, wie Paulus in R�mer 11 deutlich macht, auf einzigartige
Weise mit dem j�dischen Volk verbunden.
- Wir Christen haben uns auf ersch�tternde Weise am j�dischen Volk
vers�ndigt.
- Als "Salz und Licht" dieser Welt haben wir Christen die
Beauftragung und Vollmacht, den destruktiven gesellschaftlichen
Kr�ften und allen dahinterstehenden geistlichen M�chten im Geist und
in der Kraft Jesu entgegenzutreten.
Die einzigartige Verbindung von uns Christen mit dem j�dischen Volk
Paulus stellt im R�merbrief die Beziehung von Christen und Juden
zueinander auf programmatische Weise im Bild eines �lbaums dar. Der
"�lbaum" als Ganzes steht f�r das j�dische Volk. Die
"ausgebrochenen Zweige" sind ein Bild f�r die Mehrheit des
j�dischen Volkes, die Jesus als Messias abgelehnt haben (aber
ausdr�cklich die Verhei�ung haben, "wieder eingepropft" zu
werden!). Wir Christen werden von Paulus als die in den "�lbaum
eingepropfte Zweige" dargestellt, die - durch Jesus - an der ganzen
F�lle des geistlichen Reichtums und Erbes des j�dischen Volkes (n�her
dargestellt in R�mer 9, 4-5, Eph. 2,12 u.a.) teilhaben d�rfen.
Auf diesem Hintergrund ermahnt Paulus uns Christen, da� wir uns
gegen�ber dem j�dischen Volk - auch wenn sie mehrheitlich Jesus als
ihren Messias abgelehnt haben - eine Haltung der Wertsch�tzung und der
Dankbarkeit zueigen machen sollen - ja mehr noch: Da� wir uns von Gott
eine tiefe Liebe zu ihm schenken lassen, die sie "zur Eifersucht
reizt". Ausdr�cklich warnt Paulus davor, uns als Christen �ber das
j�dische Volk zu erheben und stolz zu werden!
Die einzigartige Schuld von uns Christen am j�dischen Volk
Leider steht die Kirchengeschichte weitgehend in einem krassen
Gegensatz zu diesen unmi�verst�ndlichen Aussagen des Paulus. Aus der
schier unendlichen F�lle an Material bez�glich des inzwischen etwa 1900
Jahre w�hrenden christlichen Antisemitismus sollen nun - in etwa in
chronologischer Reihenfolge - vier besonders markante Tatbest�nde
herausgegriffen werden.
a) Die verh�ngnisvolle theologische Weichenstellung der Kirchenv�ter
Schon etwa 100 Jahre nachdem Paulus diese klaren und eindringlichen
Worte an die Gemeinde in Rom geschrieben hat, beschritten die
einflu�reichsten und pr�gendsten M�nner der alten Kirche, die
Kirchenv�ter, einen anderen Weg.
Auf dem Hintergrund anhaltender Konflikte zwischen Juden und Christen
sowie der Trag�die der beiden verlorenen j�dischen Kriege (70 / 135 n.
Chr.) mit der Zerst�rung des Tempels und Jerusalems sowie der weltweiten
Zerstreuung des j�dischen Volkes als Folge davon, sind die Kirchenv�ter
praktisch ausnahmslos zu dem Urteil gekommen, da� Gott das j�dische
Volk, die "Christusm�rder", auf ewig verworfen hat. Die
christliche Kirche habe demgegen�ber nun den Platz Israels eingenommen
und sei nun f�r immer die einzige Tr�gerin aller Verhei�ungen und
Segnungen Gottes (das ist der Kern der sog.
"Substitutionslehre", "Enterbungstheologie" oder
"Ersatztheologie").
Origines
Besonders weitreichende Auswirkungen hatte die theologische
Weichenstellung des sogenannten "ersten Dogmatikers der
Kirchengeschichte", Origines aus Alexandrien. Dieser stellte Anfang
des 3. Jahrhunderts mit der aus dem Neuplatonismus �bernommenen Methode
der "allegorischen Auslegung" den Kirchenv�tern und allen
weiteren Theologen-Generationen das entscheidende theologische
Handwerkszeug zur Verf�gung. Unter Anwendung dieses "hermeneutischen
Schl�ssels" (= ma�gebliches Auslegungskriterium) wurden alle
Verhei�ungen, die im Alten Testament dem Volk Israel zugesprochen sind,
(unter v�lligem und unwiderruflichem Ausschlu� Israels!) auf die Kirche
�bertragen. Die Fragw�rdigkeit und Willk�r im Umgang mit diesem
"Schl�ssel" wird jedoch dadurch deutlich, da� alle Fl�che und
Gerichtsverhei�ungen des Alten Testaments wortw�rtlich, bleibend und
ausschlie�lich dem j�dischen Volk zugedacht worden sind.
Chrysostomus
Auf diesem Hintergrund entwickelte sich eine zunehmend aggressive
antij�dische Polemik, die bei einem der Kirchenv�ter, dem Bischof von
Antiochien, Johannes Chrysostomus (354-407) einen ber�hmt-ber�chtigten
rhetorischen H�hepunkt fand. Hier ein Auszug aus einer Serie von acht
Predigten "gegen die Juden":
Die Juden sind allesamt "l�stern, Vergewaltiger, geizig, perfide
Banditien. Sie sind M�rder, Randalierer, vom Teufel besessen, schlimmer
als die wildesten Tiere. (Sie sind) Kindsm�rder, schmutzig und gottlos.
Ihre Synagogen sind Hurenh�user, R�uberh�hlen, der Wohnort des Teufels
- und das gleiche gilt auch f�r ihre Seelen. ... Wegen ihres Mordes an
Christus sind sie durch den Zorn Gottes f�r immer versto�en und
bestraft, ohne Land und ohne Tempel, f�r immer dem Joch der Knechtschaft
(gemeint ist die Knechtschaft unter die Christen; Anm. d. Autors)
unterworfen. Gott ha�t die Juden und wird sie immer hassen. ... Es ist
die Pflicht der Christen, die Juden zu hassen. Je mehr wir Christus
lieben, desto mehr m�ssen wir die Juden bek�mpfen, die ihn
hassen...."
b) Die zunehmende Entrechtung der Juden im Zeitalter des r�mischen
Staatskirchentums
Sobald das Christentum im r�mischen Reich (und sp�ter andernorts) zur
Staatsreligion erkl�rt wurde, entwickelte sich auf der Grundlage der
negativen theologischen Einstellung eine systematische und weitreichende
Entrechtung der Juden. Zun�chst beschr�nkte sich diese auf den
Ausschlu� aus bestimmten �mtern und Berufen sowie der Abfuhr von
bestimmten Steuern oder Abgaben. Im weiteren Verlauf war dies jedoch nur
der Beginn einer immer weiter fortschreitenden Entwicklung mit immer neuen
Ma�nahmen, durch die man versuchte, die Juden zu dem�tigen und ihnen
ihren untergeordneten Status st�ndig vor Augen zu halten.
Diese Entwicklung ging einher mit einer rapiden Zunahme kirchlich
geduldeter oder sogar veranla�ter antisemitischer Ausschreitungen
(Synagogenverbrennungen, Pogrome, etc.) in verschiedendsten Regionen des
r�mischen Reiches gegen Ende des vierten und im Verlauf des f�nften
Jahrhunderts.
Eine neue und weitreichende Form dieses christlichen Antisemitismus
trat zu dieser Zeit in Form der Zwangstaufen erstmals in Spanien auf und
blieb �ber fast dreizehn Jahrhunderte hinweg eine der von Juden
gef�rchtetsten Schikanen, die ihnen Christen antun konnten.
Juden, die nicht bereit waren, sich taufen zu lassen, wurden
regelm��ig mit dem Tod oder mit Vertreibung bedroht. Familien wurden
zerrissen, indem man den j�dischen Familien die Kinder wegnahm, diese
taufte und dann christlichen Familien �bergab. Im Laufe der Zeit
entwickelte sich eine bestimmte "Liturgie" der Zwangstaufe,
w�hrend der sich die "T�uflinge" die schlimmsten Strafen und
Fl�che auferlegen mu�ten, sollten sie in irgendeiner Weise irgendwelchen
j�dischen Br�uche (wie z.B. eines der j�dischen Feste oder den Sabbat
zu feiern) praktizieren. Im Zeitalter der spanischen Inquisition starben
Tausende von (zwangs-)getauften Juden, genannt Marranos (Schweine) unter
der Folter, die solcher "Vergehen" verd�chtigt wurden.
Abertausende wiederum zogen den Selbstmord der Zwangstaufe vor.
c) Falsche Anschuldigungen, Pogrome und Vertreibungen im Mittelalter
Das Mittelalter ist in mancher Hinsicht die grausamste Zeit f�r die
Juden gewesen - wenn man einmal von unserem Jahrhundert absieht. Nach
einigen Jahrhunderten relativer Ruhe sind im Verlauf des ersten Kreuzzugs
1096 die ersten gro�en Massaker an Juden erfolgt und im 12. / 13.
Jahrhundert in allen weiteren Kreuzz�gen wiederholt worden. �ber
einhundert j�dische Gemeinden vorwiegend in Deutschland, aber auch in
Nordfrankreich, �sterreich und der Schweiz, wurden zerst�rt.
Zehntausende von Juden starben auf dem Scheiterhaufen oder eines anderen
gewaltsamen Todes. Ende des 13. Jahrhunderts tauchte in Bayern und
�sterreich das Ph�nomen der "Judenschl�chter" auf - Anla�
war der damals sehr gel�ufige Vorwurf einer Hostiensch�ndung durch
Juden. Innerhalb weniger Jahre fielen 100.000 Juden diesem Wahn zum Opfer.
F�nfzig Jahre sp�ter folgten die Judenmassaker der Pestzeit - diesmal
warf man ihnen vor, die Brunnen der Christen (aus denen sie selber
tranken!) vergiftet zu haben.
Eine Welle der Massenhysterie folgte der anderen. Anstifter waren oft
kirchliche F�hrer, manchmal auch die weltliche Obrigkeit. T�ter waren in
der Regel der aufgestachelte Mob, der alle seine Frustrationen, �ngste
und Vorurteile gegen die Juden in Form von Folter, Massaker oder
Vertreibungen abreagierte. Hunderttausende von Juden mu�ten im Laufe
dieser Jahrhunderte allein im deutschsprachigen Raum ihr Leben lassen.
Weitere unz�hlige Menschen wurden vertrieben, in Ghettos eingepfercht der
b�rgerlichen Recht beraubt und finanziell ausgebeutet.
In einigen Regionen Europas (z.B. im katholischen Polen, aber auch im
orthodoxen Ru�land und der Ukraine) blieb dies das allgemeine Schicksal
der Juden bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts hinein. Eine aktuelle
Untersuchung der Evangelischen Marienschwestern in Darmstadt geht davon
aus, da� es seit der Zeit der Kreuzz�ge in mindestens 377 Orten
Deutschlands mindestens 580 Pogrome gegen Juden gegen hat - die Nazizeit
nicht mitgerechnet!
d) Das Versagen der Reformation in Bezug auf den christlichen
Antisemitismus
Leider mu� von Luther gesagt werden, da� er - nach guten Ans�tzen in
seinen j�ngeren Jahren - letztendlich theologisch und rhetorisch
uneingeschr�nkt dem verh�ngnisvollen Weg der Kirchenv�ter gefolgt ist.
Nachdem Luther zun�chst hoffte, die Juden gewinnen zu k�nnen, und ihm
dies nicht gelungen ist, hat er einen brennenden Zorn gegen sie
entwickelt, der sich in mehreren schriftlichen Ver�ffentlichungen und
einer gro�en Zahl von ha�erf�llten antij�dischen Predigten
niederschlug. In einer dieser Schriften, "Schem Haphoras"
schrieb Luther, an Chrysostomus erinnernd, beispielsweise:
"Juden sind Brunnenvergifter, rituelle M�rder, Wucherer,
Parasiten der christlichen Gesellschaft, schlimmer als Teufel, schwerer zu
bekehren als Satan selbst. Sie sind zur H�lle verdammt. Sie sind in
Wahrheit der Antichristus. Ihre Synagogen sollen zerst�rt und ihre
B�cher verboten werden. Sie sollen gezwungen werden, mit ihren H�nden zu
arbeiten oder besser noch, sie sollen von den F�rsten aus deren Gebiet
verjagt werden."
Diese Worte blieben nicht ohne Wirkung. In den 150 bis 200 Jahren nach
der Reformation wurden auch in protestantischen Regionen sowohl von Seiten
der Kirchenf�rsten als auch von Seiten der weltlichen Territorialf�rsten
verschiedenste Formen von Diskriminierungen, Ghetto-Bildung und
Vertreibungen zugelassen oder veranla�t. Weitreichender noch ist
vielleicht die Tatsache, da� durch diese Weichenstellung Luthers gro�e
Teile des Protestantimus (einschlie�lich der meisten Freikirchen) die
"Ersatztheologie" der Kirchenv�ter bewu�t oder unbewu�t
�bernommen haben. Und nicht zuletzt hat sich das nationalsozialistische
Regime immer wieder ausdr�cklich auf Luther berufen.
Erst durch Teile des Pietismus (z.B. Graf Ludwig von Zinzendorf) kam es
(was den deutschspachigen Raum betrifft) in weiteren Kreisen des
Protestantismus zu einer ver�nderten Einstellung gegen�ber dem
j�dischen Volk und unseren j�dischen Wurzeln.
Aber hinsichtlich der Jahrhunderte nach der Reformation im allgemeinen
und hinsichtlich der nationalsozialistischen Zeit im besonderen mu�
jedoch festgestellt werden, da� es, aufs Ganze betrachtet, in Bezug auf
Theologie und Praxis in Deutschland keine grundlegenden Unterschiede
zwischen katholischen und protestantischen Gegenden gab - einfach deshalb,
weil die Reformation an dieser Stelle leider nicht wirksam geworden ist.
Ich m�chte diesen skizzenhaften kirchengeschichtlichen Abri� mit
folgenden Bemerkungen zusammenfassen: