Erzwingt den Frieden!
Wer den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern lösen
will, muss das Labyrinth aus Hass, Angst und Rachsucht zerschlagen. Und
vor allem den Terror. Warum die "Roadmap" zum Scheitern
verurteilt ist
Von Leon de Winter
Am 17. März 1954 überfielen Terroristen einen israelischen Reisebus
auf dem Weg von Tel Aviv in die südlichste Hafenstadt, Eilat am Golf
von Akaba. Bei der Ortschaft Maale Akrabim töteten sie den Fahrer,
drangen in den Bus ein und feuerten auf jeden einzelnen Fahrgast: Elf
Menschen starben. Überlebende erzählten später, dass die Terroristen
ihre Opfer bespuckt und die Leichen misshandelt hätten. Die Mörder
entkamen über die Grenze nach Jordanien.
Das geschah 13 Jahre vor jenen fatalen Tagen im Jahr 1967, als Israel
im Sechstagekrieg den Gaza-Streifen und das Westjordanland okkupierte.
In den so genannten besetzten oder strittigen Gebieten wurden also, auch
als sie noch nicht in israelischer Hand waren, Busse, Häuser,
Geschäfte und Schulen von bewaffneten Palästinensern überfallen.
Zwischen 1951 und 1955 kamen dabei 503 Israelis ums Leben. Damals
stellten Gaza-Streifen und Westjordanland keine unabhängige
palästinensische Einheit dar, sondern waren von Ägypten und Jordanien
besetzte Gebiete ohne Kanalisation, ohne Universitäten, ohne freie
Presse und ohne bürgerliche Rechte und Freiheiten. Dennoch widersetzten
sich die Bewohner der palästinensischen Flüchtlingslager nicht oder
kaum gegen ihre ägyptischen und jordanischen Besatzer: Ihr Feind war
Israel. Der palästinensische Terrorismus hatte bereits, bevor Israel im
Sechstagekrieg den Gaza-Streifen und das Westjordanland eroberte,
Gestalt angenommen.
Die Geschichte palästinensischer Gewalt gegen Juden reicht sogar in
die Zeit vor der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 zurück.
1920 und 1921 fanden im damaligen britischen Mandatsgebiet antijüdische
Krawalle statt, 1929 richteten Araber ein Massaker unter der jüdischen
Gemeinde von Hebron an, und während des Aufstands gegen die britische
Kolonialregierung 1936–1939 überfielen Araber an zahllosen Orten
jüdische Bürger und jüdische Einrichtungen.
Schon bald kam es zur bekannten Spirale: Gewalt schürte Gewalt, und
jüdische Gruppierungen ließen sich zu Vergeltungsaktionen hinreißen.
Berüchtigt ist die Rache, die Israel im Oktober 1953 für den Tod einer
jüdischen Mutter und ihrer beiden Kinder nahm, die im Schlaf von aus
dem Westjordanland eingeschleusten Terroristen ermordet worden waren. Am
Tag darauf jagten israelische Kommandos unter Führung des 25-jährigen
Ariel Scharon im Dorf Kibya, das als Versammlungsort von Terroristen
galt, Häuser mitsamt ihren Bewohnern in die Luft. 69 Menschen kamen
dabei ums Leben. Scharon schrieb später in seinen Memoiren: „Jüdisches
Blut konnte nicht länger ungestraft vergossen werden. Von da an hatte
es seinen Preis.“
Kern des gesamten Konflikts ist unleugbar die in einem Staatsgefüge
organisierte Existenz der Juden im Nahen Osten. Die Besetzung von
Gaza-Streifen und Westjordanland hat die Probleme zwar verschärft,
deren Charakter aber nicht wesentlich verändert. Es hat viele Ansätze
zu einem Friedensprozess gegeben, doch an der widerspenstigen
Wirklichkeit des alten Konflikts ist noch jede Initiative gescheitert.
Es gibt nur zwei Lösungen, beide sind mehr als naheliegend, in der
Implementierung jedoch äußerst vertrackt.
Die erste Lösung ist der Auszug der Juden aus Israel und damit die
Aufhebung ihres Staates. Die Aufhebung Israels würde in der arabischen
Welt auf begeisterte Zustimmung stoßen. Die Israelis dürften an dieser
Lösung wohl kaum bereitwillig mitarbeiten. Die Juden glauben, Recht auf
ein Land zu haben, so, wie die Araber Recht auf ihre Länder haben, von
denen es 22 gibt. Die meisten von ihnen haben ihre islamische Identität
in der Verfassung verankert. Und um jenem sehnlichsten Wunsch der Araber
entgegenzuwirken, unterhalten die Israelis die stärkste Armee des Nahen
Ostens. In der Konfrontation mit einer Revolte von Zivilisten scheint
diese überlegene Technologie freilich machtlos zu sein.
Eine Revolte von Zivilisten lässt sich, im Gegensatz zum Angriff
einer feindlichen Armee, von einer offenen Demokratie nicht mit roher
Gewalt bekämpfen. Die moralische Verfassung in den demokratischen
Institutionen, in der öffentlichen Meinung und freien Presse steht dem
massiven Einsatz militärischer Gewalt gegen Zivilisten im Weg. Bei den
Aktionen des israelischen Militärs gibt es regelmäßig Tote, und die
Grausamkeit der durch die Medien verbreiteten Bilder ruft im ruhigen
Westeuropa oft große Ablehnung hervor; Ha’aretz, eine von Israels
Qualitätszeitungen, lässt jüdische Kommentatoren zu Wort kommen, die
sich immer wieder entschieden gegen Israels Vergeltungspolitik
aussprechen. Es handelt sich hier vielfach um grausame Zwischenfälle,
aber sie sind nichts im Verhältnis zu der gigantischen
Zerstörungskraft, die die israelische Armee entwickeln könnte. Wenn
die israelische Bevölkerung bereit wäre, massenhafte Opfer unter
palästinensischen Zivilisten zu akzeptieren, wäre der Terrorismus
rasch bezwungen. Doch die Mehrheit der Israelis ist dazu nicht
bereit.
In krassem Kontrast zu Israels militärischer Stärke steht die
relative Ohnmacht der Palästinenser (und der Araber im Allgemeinen),
die die Israelis lieber heute als morgen vertreiben möchten, aber nicht
dazu in der Lage sind. Ob die Mehrheit des palästinensischen Volkes
(und der Araber im Allgemeinen) eine den Israelis vergleichbare relative
Zurückhaltung aufbringen würde, wenn sie über Israels Stärke
verfügte und die Israelis nur die begrenzten Mittel der Palästinenser
besäßen, ist fraglich.
Vierzehnhundert Jahre Islam haben den Muslimen in Fleisch und Blut
übergehen lassen, dass Allah die Juden straft, die in der islamischen
Tradition als die „Nachkommen von Affen und Schweinen“ bezeichnet
werden (für jeden Muslim ist das eine alltägliche Beschreibung von
Juden). In einer Ausstrahlung der wöchentlichen Talkshow von
al-Dschasira wurde im vergangenen Jahr allen Ernstes die folgende These
erörtert: „Die Söhne Zions, die unser Gott als die Söhne von Affen
und Schweinen bezeichnet, werden sich nur abschrecken lassen, wenn ein
wirklicher Holocaust stattfindet, der sie alle auf einen Schlag
vernichtet, zusammen mit den Verrätern – jenen, die mit ihnen
kollaborieren, dem Abschaum der islamischen Nation.“
In der frühen islamischen Welt war die Stellung der Juden als „Volk
des Buches“ zwar gesichert, doch sie wurden als minderwertig
angesehen. Man kreidete ihnen an, dass sie sich hartnäckig der
Botschaft Mohammeds verschlossen, und betrachtete sie als feige,
gerissen und hinterhältig. Sie hatten Sondersteuern zu zahlen, sich
durch ihre Kleidung als Juden auszuweisen (gelber Fleck) und das Tragen
von Waffen (das in der stammesgeprägten arabisch-islamischen Welt viele
Jahrhunderte lang unverzichtbares Zeichen der Stärke und des Stolzes
war) sowie das Reiten auf Pferden zu unterlassen. Pogrome wie im
christlichen Europa kamen zwar in der arabischen Welt in deutlich
geringerem Umfang und weitaus milderer Form vor, doch von einem
gleichberechtigten jüdisch-islamischen Verhältnis war nur in seltenen
Ausnahmefällen die Rede.
In den Juden Europas reifte im Laufe des 19. Jahrhunderts der
Gedanke, dass auch sie Recht auf einen eigenen Staat hätten. Sie
wollten sich dem europäischen Antisemitismus entziehen und im Geiste
der damaligen Zeit als Volk von ihrem Recht auf nationale
Selbstbestimmung Gebrauch machen. Dafür sollten die Araber in
Palästina Platz machen, doch für diese war die Einwanderung
europäischer Juden kulturell und religiös untragbar. Zwischen 1883 und
1903 immigrierten nicht mehr als 25000, oft leidenschaftliche
Sozialisten, die ihre Ideen vom neuen Menschen in Lebensgemeinschaften
in die Praxis umsetzten. Die seit Anfang des 19. Jahrhunderts von
christlichen europäischen Großmächten erniedrigten Araber, darunter
auch die palästinensischen Araber, begannen ihrerseits über das Recht
auf Selbstbestimmung nachzudenken. Wie groß die arabische Gemeinschaft
in Palästina um 1900 genau war, lässt sich schwer ermitteln, da
Palästina unter den Türken kein separater Verwaltungsbezirk war. Es
steht jedoch fest, dass die arabische Migration in das rückständige
und kaum kultivierte Palästina zur Zeit der jüdischen Einwanderung
zunahm, vermutlich infolge neuer wirtschaftlicher Aktivitäten in den
und um die jüdischen Siedlungen.
Der zweite jüdische Einwanderungsstrom von rund 40000 Menschen
zwischen 1904 und 1914 wurde durch die heftige Verfolgung der Juden im
zaristischen Russland ausgelöst (weitaus die meisten jüdischen
Flüchtlinge suchten ihr Heil in den Vereinigten Staaten). Die
jüdischen Immigranten wurden in der ersten Phase von Europa aus durch
Mäzene wie Sir Moses Montefiore und Baron Edmond de Rothschild und
später von progressiven jüdischen Kreisen finanziell unterstützt.
Ihre Präsenz behinderte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
die aufkeimenden nationalen Bestrebungen der Araber und wurde von den
palästinensischen Arabern daher auch rasch als Bedrohung empfunden. Sie
wurde manifest, als nach der Machtergreifung Hitlers 1933 vermehrt Juden
aus Mitteleuropa flohen. Um 1936 hielten sich etwa 400000 Juden im
britischen Mandatsgebiet Palästina auf. Britische Zählungen belegen,
dass dort im selben Jahr 860000 Araber lebten.
Die Juden bildeten keine kulturelle und politische Einheit.
Spannungen gab es vor allem unter den Idealisten („Maximalist“
Jabotinski gegen Pragmatiker Ben Gurion) sowie zwischen den Idealisten
und den Religiös-Orthodoxen. Der Zweite Weltkrieg war dann Anlass, die
Reihen zu schließen und die internen Differenzen zu relativieren, und
er lieferte den Juden ein unerbittliches moralisches Druckmittel gegen
den Westen. Nicht zu Unrecht werfen die Palästinenser Europa vor, sie
hätten den Preis für den europäischen Antisemitismus zu zahlen, der
die jüdischen Einwanderungsströme in Gang setzte.
Die örtlichen Gepflogenheiten im Nahen Osten waren den Juden schon
bald vertraut. Thomas Friedman, Kolumnist der New York Times und
Nahostexperte, hat diese Gesetze der arabisch-islamischen Region in
einem seiner Bücher Hama rules genannt. In From Beirut to Jerusalem
beschreibt Friedman die Zerstörung der syrischen Stadt Hama im Jahre
1982 durch den syrischen Diktator Hafis al-Assad. In Hama tobte ein
Aufstand der sunnitischen Muslimbruderschaft, den Assad an der Wurzel
packte: Er ließ die Stadt zerstören und dem Erdboden gleichmachen. Wie
viele Menschen dabei ums Leben kamen, ist nicht bekannt; Schätzungen
bewegen sich zwischen zehn- und dreißigtausend.
In seinem Buch schildert Friedman das Gespräch zwischen einem
libanesischen Geschäftsmann und Rifaat al-Assad, dem Bruder des
damaligen Präsidenten, der den Schlag befehligt hatte. „,Ich glaube,
ihr habt dort 7000 Menschen getötet‘, sagte der Geschäftsmann zu
Rifaat. Normalerweise würde ein Politiker einen so schlimmen Vorfall
herunterspielen wollen und sagen: ‚Oh nein, wir haben keine 7000
getötet. Was redest du da? Das ist nichts als Propaganda unserer
Feinde. Wir haben nur ein paar hundert Unruhestifter getötet.‘
Aber Rifaat wusste ganz genau, was er in Hama getan hatte und (…)
sagte zu dem libanesischen Geschäftsmann: ‚Was redest du da? 7000?
Nein, nein. Wir haben 38000 getötet.‘“
Friedman folgert: „Er hatte erfasst, wie das Spiel in einem von
Clans geprägten Umfeld wie Syrien läuft, dass man dergleichen zu tun
hatte, wenn man nicht wollte, dass es einem selbst zustieß, also tat er
es, und alle seine Freunde und Feinde sollten wissen, dass er es getan
hatte.“
Weiter oben in seinem Buch erzählt Friedman die Geschichte vom
Truthahn.
Das eigene Scheitern wird dem bösen Willen anderer
angelastet
Ein älterer Beduine hatte gehört, dass er durch den Verzehr von
Truthahnfleisch seine Manneskraft stärken könne. Also kaufte sich der
Mann einen Truthahn und mästete ihn. Eines Tages wurde der Truthahn
gestohlen. Der Beduine rief seine Söhne zu sich und sagte, sie müssten
den Truthahn finden. Seine Söhne lachten ihn aus und taten nichts. Da
wurde einige Wochen später sein Kamel gestohlen. Seine Söhne kamen zu
ihm und fragten, was sie tun sollten. „Geht meinen Truthahn suchen“,
sagte der alte Beduine. Wieder einige Wochen später wurde sein Pferd
gestohlen, und zu seinen Söhnen sagte der alte Mann: „Findet meinen
Truthahn!“ Und dann wurde einige Wochen später eine seiner Töchter
vergewaltigt. Der Vater sagte zu seinen Söhnen: „Das kommt alles nur
durch den Truthahn. Als sie merkten, dass sie mir meinen Truthahn
wegnehmen konnten, haben wir alles verloren.“
Und Friedman bemerkt dazu, Hama sei Assads „Truthahn“ gewesen,
der Moment, in dem das Oberhaupt eines Clans – Assad war Führer der
Alawiten – seine Macht zu demonstrieren und die mögliche
Unterminierung seiner Souveränität mit roher Gewalt zu beantworten
hatte. Zerschmetterte er seine Widersacher – die sunnitischen
Muslimbrüder Hamas – nicht, dann würden die Stammeskulturen des
Nahen Ostens dies als Schwäche werten, und damit wäre sein Untergang
eingeläutet.
Was ist die zweite Lösung des Konflikts?
Sie könnte durch die Anerkennung Israels als jüdischer Staat durch
die arabische Welt erreicht werden, vor allem durch die bewusste
Anerkennung der Niederlage aufseiten der Palästinenser. Seit 1948 wird
diese Niederlage abgestritten. Seit nunmehr 55 Jahren klammern sich die
Palästinenser an den Gedanken, dass der Verlust des Territoriums im
Umfang des heutigen Israel nur vorübergehender Natur sei. Millionen von
Palästinensern, die in Flüchtlingslagern leben, schöpfen, Generation
für Generation, tagtäglich Mut aus dem Traum, dass eines Tages die
Rückkehr stattfinden wird. Doch schon ein kurzer Blick auf Israels
militärische Stärke müsste genügend Realitätssinn wecken, um sich
mit den Tatsachen abzufinden.
Die gesamte arabische Welt zeichnet sich durch ein chronisches
Bedürfnis aus, die Wirklichkeit zu verschleiern, zu beschönigen und zu
verdrängen. Beharrlich werden die eigenen Kapazitäten und
Errungenschaften überschätzt, und das eigene Scheitern wird dem bösen
Willen anderer – gegenwärtig sind das in den arabischen Medien vor
allem die Juden – zugeschrieben. Dadurch ist eine rein rhetorisch
behauptete Scheinwirklichkeit entstanden, die zum totalen Versagen der
arabischen Gesellschaften geführt hat.
Bis zum heutigen Tag können es sich die Muslime nicht eingestehen,
dass sie den größten Teil des historischen Palästinas, in welchem sie
einen unveräußerlichen Bestandteil ihrer Einflusssphäre erkennen, an
die Juden verloren haben. In der Charta der Hamas steht hierzu, was
vermutlich viele Araber denken: „Die Islamische Widerstandsbewegung
glaubt, dass das Territorium Palästinas ein islamischer Waqf [ein
Terminus aus dem islamischen Recht, der so viel bedeutet wie: Gottes
Eigentum, von Gott legitimierter Besitz] aller Generationen bis zum
Jüngsten Tag ist; niemand darf es oder einen Teil davon aufgeben oder
darauf oder auf einen Teil davon verzichten.“
Das Phänomen Israel ist für die meisten Araber eine existenzielle
Frage, ein Truthahn gigantischen Ausmaßes, der ihnen gestohlen wurde.
Wirklicher Frieden mit Israel, die Aufgabe der süßen Vergeltung, mit
der die Demütigungen von vier furchtbar entehrenden Niederlagen
gerächt werden könnten, hieße implizit, dass der Koran – der in der
arabisch-islamischen Welt eine im Vergleich zu den christlichen und
jüdischen heiligen Büchern unvergleichlich höhere normative Kraft
besitzt – in seinen Ansprüchen und Versprechungen nicht absolut
wäre, und das ist in den Augen des Durchschnittsmuslims ein Ding der
Unmöglichkeit. Ein Friedensvertrag kann daher nur befristet sein, ein
taktischer Zug, um Zeit zu gewinnen und das verlorene Terrain später
zurückzugewinnen.
Für die arabische Welt wurde die arrogante Existenz Israels zum
großen Sinnbild für die Unterlegenheit ihrer eigenen Institutionen und
ihrer rückständigen Technologien sowie für die Schwäche ihrer
Kultur, die vom Westen auf allen Ebenen überflügelt wurde. Der daraus
resultierende Minderwertigkeitskomplex äußerte sich in eingebildeter
Überlegenheit, gestützt auf eine weit zurückliegende ruhmvolle
Vergangenheit sowie die religiöse Wahrheit der heiligen Schrift des
Islams, des Korans, der den Muslimen nicht nur ein Paradies im Jenseits,
sondern auch die Herrschaft in der irdischen Wirklichkeit in Aussicht
stellt. „O Allah, verhilf den islamischen Kämpfern in Palästina,
Tschetschenien und anderswo zum Sieg!“, rief der Imam Moussa jüngst
am 6. Juni in der Großen Moschee in Rom.
„O Allah, zerstöre die Häuser der Feinde des Islams! O Allah,
hilf uns, die Feinde des Islams zu zerschmettern! O Allah, gewährleiste
den Sieg des Islams!“
Der feige, demütige Jude, wie ihn die islamische Tradition vorstellt
und der im Koran getötet oder zum Sklaven gemacht wird, versetzte dem
Islam in der ersten direkten militärischen Konfrontation seit der Zeit
Mohammeds hingegen einen vernichtenden Schlag. Die Bestürzung darüber
klingt in der arabischen Welt bis zum heutigen Tag nach. Von besagten
„Truthähnen“ wimmelt es in der Region. Israel muss auf jeden
Anschlag mit Vergeltung reagieren, weil es derartige Provokationen nicht
hinnehmen darf. Und die Vergeltung muss dann wiederum gerächt werden,
wie es die Stammesgesetze von Schande und Ehre in der arabischen Welt
verlangen.
Die so genannte „Roadmap“ von USA, EU, Russland und den UN
ändert daran wenig. „Da es ein fortschrittlicher Plan ist, wird die
Entwicklung allerdings davon abhängen, dass die Parteien sich guten
Willens bemühen und allen unten dargelegten Verpflichtungen nachkommen“,
heißt es in ihrem Prolog, und da wird es schon schwierig: Die Parteien
können sich nur mit größtem Argwohn begegnen, da lässt sich nicht
auf vertrauensvollen guten Willen bauen.
„In Phase I verpflichten sich die Palästinenser dazu, mit den
unten dargelegten Schritten umgehend und bedingungslos die Gewalt
einzustellen; unterstützende Maßnahmen vonseiten Israels sollten
hiermit einhergehen.“ So lautet der erste Satz zu Phase I des Plans.
Der Satz unterstellt, dass man in den Palästinensergebieten im Prinzip
über die gleichen Institutionen und Strukturen verfüge wie die
westlichen Staaten, wo ein realistischer Plan von verantwortlichen
Behörden und einer Bevölkerung mit diszipliniertem staatsbürgerlichen
Bewusstsein umgesetzt werden kann. Auf die Palästinensergebiete trifft
das aber nicht zu. Unberücksichtigt bleiben in Phase I die Rolle der
Clans und ihrer korrupten Oberhäupter, das Schurkentum, das eine
gesunde ökonomische Entwicklung behindert, die Explosivität
religiöser Rachegefühle sowie Machtgier und Machtmissbrauch
autokratischer Eliten, die die arabischen Gesellschaften im gesamten
Nahen Osten in Rückständigkeit und Armut gefangen halten.
In dieser ersten Phase, die im Juni 2003 abgeschlossen sein soll, hat
unter anderem Folgendes zu geschehen: Die Palästinenser müssen ihre
Hetze gegen Israel einstellen, den Terrorismus verurteilen und
bekämpfen, illegale Waffen einziehen, Sicherheitsorganisationen zu drei
einem Innenminister unterstellten Diensten zusammenfügen, demokratische
Institutionen aufbauen und, kurzum, vor Juni 2003 zu einem Land wie
Dänemark werden – ungefährlich, mit hohem Bildungsniveau. Ein guter
Nachbar.
Von Israel wird unter anderem erwartet, dass es die
Zweistaatenlösung akzeptiert, jede Hetze gegen die Palästinenser
einstellt (für ein Land mit freier Presse ein seltsamer Zusatz, der
offenbar angebracht wurde, um dem Plan eine gewisse Ausgewogenheit zu
verleihen), keine Gewalt gegen Palästinenser ausübt oder deren Häuser
zerstört, die seit März 2001 errichteten Siedlungen abbaut, ihre Armee
aus den seit September 2000 wiederbesetzten autonomen
Palästinensergebieten zurückzieht und sich, kurzum, verhält, als
grenze es an Dänemark.
Phase II setzt voraus, dass all das gelungen ist und auf diesem
Fundament weitergebaut werden kann. Zwischen Juni und Dezember 2003
sollen sich die Bemühungen darauf konzentrieren, „einen unabhängigen
palästinensischen Staat mit vorläufigen Grenzen und Merkmalen der
Souveränität“ zu gründen. Und daran anschließend heißt es in der
„Roadmap“ munter: „Wie bereits festgestellt, kann dieses Ziel
erreicht werden, wenn das palästinensische Volk eine Führung hat, die
entschieden gegen den Terror vorgeht sowie willens und fähig ist, eine
funktionierende Demokratie auf der Grundlage von Toleranz und Freiheit
aufzubauen.“
Noch nie hat sich im Nahen Osten eine arabische Demokratie auf der
Grundlage von Toleranz und Freiheit entwickeln können, aber die
Verfasser des Plans meinen, dass in den von Gewalt, Korruption und
religiösem Extremismus zerrissenen Palästinensergebieten die nötige
Ruhe, das Relativierungsvermögen und die Kompromissbereitschaft
vorhanden seien, um so eins, zwei, drei die Entwicklung zu einer
modernen liberalen Gesellschaft zu vollziehen.
Phase III stützt sich auf die großen Erfolge, die im Laufe des
Jahres 2003 zu verbuchen sein werden, und sieht für 2005 eine „Vereinbarung
über den endgültigen Status“ vor. Es soll eine zweite internationale
Konferenz einberufen werden (die erste müsste schon 2003 mit der
Teilnahme Syriens am Verhandlungstisch abgehalten werden), die 2005 zu
einer „dauerhaften, endgültigen Klärung des Status unter
Einbeziehung der Themen Grenzen, Jerusalem, Flüchtlinge und Siedlungen
führt, um Fortschritte in Richtung einer baldmöglichst zu erzielenden
umfassenden Nahost-Einigung zwischen Israel und Libanon sowie zwischen
Israel und Syrien zu fördern.“
Einige Zeilen weiter heißt es: „Die Parteien erzielen im Wege
gemeinsamer Aushandlung auf der Grundlage der Resolutionen 242, 338 und
1397 des UN-Sicherheitsrats eine letztgültige und umfassende
Vereinbarung über den endgültigen Status, die den
israelisch-palästinensischen Konflikt im Jahr 2005 beendet; diese
Vereinbarung beendet auch die Besatzung, die im Jahr 1967 begann, und
beinhaltet eine einvernehmliche, gerechte, faire und realistische
Lösung der Flüchtlingsfrage sowie eine auf dem Verhandlungsweg
erzielte Klärung des Status von Jerusalem, die die politischen und
religiösen Bedenken beider Seiten berücksichtigt und die religiösen
Interessen von Juden, Christen und Muslimen in aller Welt schützt, und
sie verwirklicht die Vision, dass die zwei Staaten, nämlich Israel und
ein souveränes, unabhängiges, demokratisches und lebensfähiges
Palästina, in Frieden und Sicherheit zusammenleben.“
Ein Plan ohne Gespür für die historischen Wunden
Jedem, der sich ein wenig im politischen, psychologischen,
religiösen und kulturellen Sumpf des Nahen Ostens auskennt, wird, wenn
er das liest, sofort aufgehen, dass dieser Plan von Bürokraten stammt,
die keinerlei Gespür haben für die Bösartigkeit und Komplexität der
historischen Wunden der betroffenen Parteien – für den religiösen
Fanatismus, die Kultur von Scham und Selbstachtung, die 2000-jährige
jüdische Geschichte der Diskriminierung, die die Israelis nur noch auf
ihre Waffen vertrauen lässt, und schließlich für den in
wirtschaftliche, politische und moralische Lähmung mündenden
Minderwertigkeitskomplex, den die arabische Kultur nach den verheerenden
Niederlagen gegen die französische und britische Imperialmacht im 19.
und gegen die israelische Armee im 20. Jahrhundert entwickelt hat.
Wie schon die Verträge von Oslo setzt der Plan eine rationale
Grundhaltung der betroffenen Parteien voraus und verirrt sich somit im
nahöstlichen Labyrinth von undurchsichtigem Finassieren, Paranoia, Hass
und Angst, von Ressentiment und Rachsucht, von Rassismus und
Antisemitismus, von Komplott-Theorien und mit Geistern und Teufeln
besetzten Fantasiewelten.
In der „Roadmap“ wird so getan, als gäbe es dieses Labyrinth
nicht, und deshalb kann sie nicht funktionieren. Damit soll nicht gesagt
sein, dass sich ein Friedensplan den besonderen Eigenheiten der Region
anzupassen hätte, im Gegenteil: Es führt zu nichts, wenn man allen
Nuancen Beachtung schenkt. Doch jeder Friedensplan sollte das vorhandene
Labyrinth berücksichtigen, um es dann aufzuheben. Das Labyrinth muss
zerschlagen werden.
Damit haben die Amerikaner im Irak einen Anfang gemacht. Ohne sich
von den regionalen Weisheiten („Die breite Masse wird sich erheben“;
„Araber ziehen ihren hausgemachten Diktator einer gewählten Regierung
vor“; „Demokratie lässt sich nicht erzwingen“; „Araber hassen
Amerikaner mehr als ihre eigenen Unterdrücker“) beirren zu lassen,
haben die Amerikaner mit ihren Panzern die Mauern des Labyrinths zum
Einsturz gebracht. Was in den kommenden Jahren im Irak bewerkstelligt
werden kann, wird entscheidend sein für die Zukunft und die Rolle des
Westens in der arabisch-islamischen Welt.
Die „Roadmap“, die jetzt auf dem Tisch liegt, bringt keinerlei
Erleichterung der Situation. Und das hat viel mit der zwiespältigen
Haltung der EU zu tun, die hin- und hergerissen ist zwischen einserseits
den vorhandenen wirtschaftlichen Interessen an der arabischen Welt (Öl,
Öl, Öl) und andererseits der Empfindlichkeit für die geltend
gemachten moralischen Ansprüche, die für Israel aus der Ermordung der
europäischen Juden resultieren.
Darüber hinaus hat aber noch ein weiterer Faktor Einfluss auf das
Verhalten der EU: Die sozioökonomischen Krisen in der
arabisch-islamischen Welt sind derart groß, dass der drohende Ausbruch
von Hass und Rachsucht nicht auf die arabische Welt beschränkt bleiben
kann. Die Mehrheit der arabischen Bevölkerung ist jünger als 18; es
gibt keine Arbeit für die kommenden Generationen, keinen Wohnraum,
keine Mittel, um ein menschenwürdiges Dasein aufzubauen, es fehlt der
Raum, um kreativ und erneuernd zu wirken und zu denken, es sind keine
Industrien vorhanden, die konkurrierend den Weltmarkt erobern könnten
(im Gegensatz zu Ostasien, wo die Modernisierung sehr wohl geglückt
ist). Der Immigrationsdruck auf den Bauch Europas wird enorm ansteigen,
und es fragt sich, wie die EU damit umgehen soll. Die EU wird aufgrund
der zunehmenden Vergreisung Bedarf an Arbeitskräften entwickeln, damit
das Niveau von Lebensstandard und Rentenleistungen gehalten werden kann.
Die naheliegendste Option ist, diesen Bedarf mit dem Bevölkerungsdruck
in Nordafrika zu koppeln. Sollte dies geschehen, wird die Islamisierung
Europas zunehmen, und die moralischen Ansprüche der Juden dürften
angesichts einer neuen Entwicklung in Europa an Gewicht verlieren. Dann
wird Israel für Europa eine Fußnote in der Geschichte sein.
Zudem wäre da noch das natürliche Bedürfnis der EU, ihre
wirtschaftliche Macht in politische und militärische Macht umzusetzen,
sodass sie auch auf diesen Gebieten mit Amerika konkurrieren kann.
Was die Empfindlichkeit für die jüdischen Ansprüche betrifft, sei
das Folgende bemerkt: Seit 1982, seit den Morden in Sabra und Schatila,
ist diese Empfindlichkeit ernstlichen Erosionen unterworfen. Obwohl die
Morde auf das Konto libanesischer Christen gehen – aus Rache für den
von Palästinensern begangenen Mord an dem christlichen libanesischen
Präsidenten Bechir Gemayel und 25 seiner Anhänger, der wenige Tage
zuvor stattgefunden hatte –, haben die internationale Presse und die
Palästinenser die direkte Verantwortung dafür Israel zugeschoben.
Seither werden immer öfter die israelischen Juden, die Erben der
Schoah-Opfer, als Mörder von Palästinensern gebrandmarkt. Diese sich
verändernde Sichtweise in Europa scheint stark mit dem psychologischen
Bedürfnis zusammenzuhängen, sich von den Nachwehen des Zweiten
Weltkriegs und dem besonderen Schutzanspruch, den die Juden daraus
ableiten, zu befreien. Je größer die Opfer der Palästinenser, desto
geringer die Sensibilität für den einstigen israelisch-jüdischen
Opferstatus.
Der letzte Punkt der „Roadmap“ lautet: „Zustimmung zur Aufnahme
vollständiger normaler Beziehungen zu Israel durch arabische Staaten
und Sicherheit für alle Staaten der Region im Kontext eines umfassenden
arabisch-israelischen Friedens.“
Wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, sind Verträge
zwischen Demokratien und Diktaturen äußerst instabil. Für Diktatoren
ist die Kontinuität ihrer Macht oberstes Ziel, für verantwortungsvolle
Politiker in Demokratien die Wahrung des Rechtsstaates und der
allgemeinen Interessen seiner Bürger. Diese beiden Auffassungen werden
immer in Spannung miteinander stehen und verhindern, dass unter den
gegebenen Bedingungen im Nahen Osten mit dem Vorbild heutiger
europäischer Modelle jemals ein Frieden möglich sein wird. Und daraus
ergibt sich, dass Israel erst Frieden finden kann, wenn die gesamte
Region liberalisiert und demokratisiert ist und von einem entwickelten,
wohlhabenden Mittelstand getragen wird. Es kann noch ein Jahrhundert
dauern, bis dieses Paradies anbricht.
Trotzdem muss etwas geschehen und der arabisch-islamischen
Fixiertheit (und die der westlichen Medien) auf Israel etwas
entgegengesetzt werden. Die Palästinenser haben ein Recht auf ihren
eigenen Staat und sollten selbst für sich sorgen können.
Die konzertierte Macht des Trios USA, EU und Russland (zusammen mit
den UN bilden sie dann ein „Quartett“) ist in der Weltgeschichte
ohnegleichen. Im Prinzip vermöchte das Trio jeden Plan zu
verwirklichen. In der „Roadmap“ hätte daher, gerade was die
besonders heiklen Themen betrifft, klar herausgestellt werden müssen,
welche Position das Trio selbst einnimmt, anstatt den Anschein zu
erwecken, die Konfliktparteien könnten über Verhandlungen zu einer
Einigung gelangen. Man sollte einmal die gemeinsame Macht von USA, EU
und Russland in ihrem ganzen Ausmaß vor Augen führen, und die
arabisch-islamische Welt würde erkennen, dass Opposition nur Untergang
bedeuten kann. Nur mit knallharter und reinster Machtpolitik können die
betroffenen Parteien zur Kooperation gezwungen werden. Allah mag im
Himmel herrschen, auf Erden hat das Trio das Sagen.
Was für den einen realistisch ist, ist für den anderen ein
Albtraum
Anstatt unverbindlich an die arabischen Länder und einen
zukünftigen palästinensischen Staat zu appellieren, Israel in den
Grenzen von vor 1967 anzuerkennen, hätte das Trio selbst für die
unerbittliche Sicherung dieser Grenzen eintreten müssen. Die Verletzung
der Grenzen Israels hätte es gleichsetzen müssen mit dem Angriff auf
die eigenen Grenzen. Außerdem hätte man Israel als Atommacht einladen
sollen, vollwertiges Mitglied der Nato zu werden. In der Frage, wie und
in welchem Umfang Israel bei einem Verteidigungskrieg unterstützt
werden kann, hätte das Trio von vornherein Klarheit schaffen sollen:
Den Aggressor wird die geballte Macht der „civilized world“ treffen.
Ein Volk, das 2000 Jahre lang verfolgt und verraten wurde, kann nur mit
solchen Garantien dazu bewegt werden, das Risiko eines Friedens mit
korrupten Diktaturen auf sich zu nehmen.
Darüber hinaus hätte die EU Israel einladen müssen, Mitglied der
EU zu werden, um es noch enger an Europa zu binden. Die Wirtschaft
Israels, das über ein hohes Ausbildungsniveau verfügt, ist mindestens
ebenso stark wie die der neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Des
Weiteren hätte das Trio in der Frage des Rückkehrrechts für
palästinensische Flüchtlinge eindeutig Stellung beziehen sollen. In
der „Roadmap“ steht, dass eine „einvernehmliche, gerechte, faire
und realistische Lösung“ gefunden werden müsse. Doch was für die
eine Partei „realistisch“ ist, ist für die andere ein
Albtraum.
Auch der palästinensische Premier Mahmud Abbas (Mitbegründer der
Fatah, der 1982, während des Studiums in Moskau, seine später unter
dem Titel The Other Side: The Secret Relationship between Nazism and the
Zionist Movement veröffentlichte Dissertation schrieb, in der er ein
Komplott zwischen Nazis und Zionisten nachzuweisen versuchte, die
Existenz der Gaskammern abstritt und die Zahl der jüdischen Opfer im
Holocaust auf unter eine Million schätzte) hält uneingeschränkt an
der Rückkehr der Palästinenser, die 1948 in arabische Regionen
geflüchtet sind, samt ihrer Nachkommen in das heutige Israel fest. Es
geht dabei um schätzungsweise drei Millionen Menschen. Israel lehnt es
ab, darüber zu verhandeln. Verständlicherweise. Der Zufluss so vieler
feindlich gesinnter Menschen kann für Israel nur den Untergang
bedeuten.
Das Trio hätte klarstellen müssen, dass diese Flüchtlinge auf
keinen Fall an ihre einstigen Wohnstätten zurückkehren können und
dass höchstens über eine großzügige finanzielle Abfindung verhandelt
werden kann. Der guten Ordnung halber sei darauf hingewiesen, dass die
Juden, die nach 1948 aus arabischen Ländern vertrieben wurden,
ebenfalls ein Anrecht auf Reparationszahlungen für ihre
zurückgelassenen Besitzungen haben (und es wäre ratsam, diese
gegebenenfalls für die Förderung der gesellschaftlichen Entwicklung in
Palästina einzusetzen).
Zudem hätte das Trio Klarheit über den Status Jerusalems herstellen
müssen. Es ist ja zur Genüge untersucht worden, inwiefern eine
Doppelhauptstadt Jerusalem möglich wäre, es also für beide Länder
gleichzeitig als Hauptstadt fungieren könnte. Das Trio hätte von sich
aus die Position beziehen müssen, dass die Stadt in administrativem
Sinne geteilt wird, ohne Mauer und mit vorläufigen UN-Kontrollposten an
der östlichen, palästinensischen Gemeindegrenze. Und was hätte das
Trio in Bezug auf die besetzten Gebiete verlautbaren sollen? Dass die
Grenzen Palästinas (angepasst entsprechend den Grenzkorrekturen, die
israelische und palästinensische Unterhändler in Taba im Januar 2001
vereinbart haben) zum 1. Januar 2005 als Grenzen eines unabhängigen
palästinensischen Staates anerkannt werden, der sich Israel gegenüber
verantwortungsvoll und friedlich zu verhalten hat. Das schließt den
Rückzug Israels aus dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland sowie den
Abbau der meisten Siedlungen bis spätestens 31. Dezember 2004
ein.
Der einzig mögliche Friede ist ein bewaffneter Friede
Die palästinensische Gesellschaft ist nach der Rückkehr Jassir
Arafats im Mai 1994 rivalisierenden Machtgruppen anheim gefallen, und
für eine dieser Eliten wird sich das Trio entscheiden müssen. Alles
deutet darauf hin, dass diese Entscheidung bereits gefällt wurde:
zugunsten der Gruppe von Mahmud Abbas, der trotz seiner
revisionistischen Vergangenheit als sehr gemäßigter Palästinenser
gilt. 1998 veröffentlichte Abbas ein Buch mit dem Titel Racial and
Religious Polarization in Israel, in dem er die folgende taktische Frage
behandelte: „Was ist besser geeignet, die Konflikte und die rassischen
und religiösen Gegensätze in der israelischen Gesellschaft zu
verschärfen und eskalieren zu lassen: Krieg oder Frieden?“ Seine
zynische Antwort lautet, dass die Araber alles daransetzen sollten, die
Israelis von ihrem aufrichtigen Friedenswillen zu überzeugen, „denn
diese Überzeugung wird die Uneinigkeit in der israelischen Gesellschaft
vertiefen und die Israelis aus ihren Panzern und Befestigungen locken“.
Einer der zentralen Streitpunkte zwischen Israelis und Palästinensern
sind die israelischen Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen.
In der Zeit des Friedensprozesses seit 1993 hat sich die Zahl der
Siedler verdoppelt. In den vergangenen Jahren sind „wilde Siedlungen“
hinzugekommen, die selbst nach israelischem Rechtsverständnis als
illegal anzusehen sind. Mit der Unterzeichnung der „Roadmap“ sichert
Israels Premierminister Ariel Scharon zu, den Siedlungsbau
einzufrieren.
Dennoch ist Mahmud Abbas, der Schatzmeister der Fatah war und wie
viele andere Fatah-Führer mit einem Import-Export-Unternehmen
Multimillionär wurde, derzeit die einzige Option. Man wird ihn mit
Waffen und Geld ausstatten müssen, damit er den Bürgerkrieg mit Hamas,
Fatah und dem islamistischen Dschihad gewinnen kann, oder besser: Das
Trio wird ihn derart stärken müssen, dass jegliche Opposition von
vornherein vergeblich ist. Die palästinensische Gesellschaft kann nicht
kurzfristig liberalisiert oder demokratisiert werden, und das bedeutet,
dass der einzig mögliche Friede ein bewaffneter Friede sein wird.
Ein „demokratisches und lebensfähiges Palästina“ ist eine Fata
Morgana. Möglich ist, mithilfe des Trios eine aufgeklärte Diktatur zu
etablieren, die mittels eines umfangreichen Marshall-Plans
wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt ermöglicht. Das kann
Jahrzehnte dauern. Und fraglos wird dieses Programm schwere Spannungen
und häufige terroristische Gewaltakte aushalten müssen. Um den
palästinensischen Terrorismus – der seit 1920 existent ist – zu
bekämpfen, wird das Trio militärisch auftreten und Soldatenleben
riskieren müssen. Aber es wird nun mal die Hauptrolle zu spielen haben.
Und das heißt Verantwortung übernehmen, Schläge einstecken,
Fehlverhalten bestrafen und Wohlverhalten belohnen. Palästina wird sich
unter der Vormundschaft des Trios zu einer selbstbewussten,
verantwortungsvollen Gesellschaft entwickeln müssen. Die Belohnung
dafür sind Ruhe und Wohlstand. Die Strafe, sollte das nicht geschehen,
sind totale Isolierung, Tod und Verderben für viele zukünftige
Generationen.
Es fragt sich, ob das Trio je in dieser Weise auftreten kann. Zum
gegenwärtigen Zeitpunkt heißt die Antwort: Nein. Chirac, Schröder und
Putin ist sehr daran gelegen, die Macht der Amerikaner im Nahen Osten zu
brechen. Jeder der drei spielt sein eigenes Spielchen mit Syrien,
anderen arabischen Staaten und dem Iran, und jeder der drei ist daran
interessiert, die öffentliche Meinung im Westen, die mit den
Palästinensern sympathisiert, in seinem Sinne zu manipulieren und die
Symbolfigur Arafat zumindest dem Anschein nach zu respektieren. Die
heutige „Roadmap“ ist dem Tode geweiht. Wenn die EU und Russland
nicht aufrichtig kooperieren und eine größere Priorität darin
besteht, amerikanische Interessen zu vereiteln, als die, die gewaltigen
Probleme in der arabisch-islamischen Welt einzudämmen, bleibt der
amerikanischen Regierung nur, eine Waffenruhe (von einem Frieden kann
man beim obigen Programm nicht sprechen), eine Pax Americana, zu
erzwingen. Das wird sich mehr oder weniger nach den hier beschriebenen
Prinzipien vollziehen. Man darf erwarten, dass die Franzosen, Deutschen
und Russen hinter den Kulissen ihre Privatinteressen ausspielen und
notorische Schurken wie Assad und Arafat in Schutz nehmen werden. Und
damit werden sie Verwirrung, Unruhe und Gewalt stiften.
Die „civilized world“ lässt nicht zu, dass Israel den
palästinensischen Terrorismus, der erst bei der völligen Vernichtung
Israels aufhören wird, gewaltsam beendet. Also wird die „civilized
world“ selbst diesen Terrorismus stoppen müssen. Eine andere „Roadmap“
gibt es nicht.
Leon de Winter
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
(c) DIE ZEIT 26.06.2003